25 Jahre nach dem Mauerfall: Der Niedergang der
neokonservativen Strategien
Nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs begann eine neue
Epoche westlicher Außenpolitik, die durch die neokonservative Strategie
geprägt war. Viele der damals formulierten überschwänglichen Ziele und
Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Stattdessen häufen sich Misserfolge, für
die die Namen Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien, Georgien und seit kurzem
auch Ukraine stehen. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Und gibt es
überhaupt noch Alternativen zu einer geopolitischen Interessenpolitik, die
offensichtlich so wenig erfolgreich ist ?
Teil 1: Der Sieg im Kalten Krieg und seine strategischen Illusionen.
Günstiger konnten die Bedingungen für den Westen gar nicht sein als zu
Beginn der 90er Jahre: Der Warschauer Pakt war aufgelöst, die Sowjetunion
war in einzelne Republiken zerfallen, China war noch kein ernstzunehmender
Akteur auf der Weltbühne. Die langfristige Hegemonie des Westens über
weite Teile der Welt, namentlich den Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika,
schien gesichert - nicht zuletzt durch seine durch die Zeitgeschichte
„geadelte“ kulturelle und politische Ausstrahlungskraft. Die USA schienen
sowohl die Macht als auch die Legitimität zu besitzen, die Weltordnung des
21. Jahrhunderts zu bestimmen - die Tragödie des 11. September 2001 fügte
dem sogar noch die weltweite Empathie hinzu. Die westlichen Eliten machten
sich daran, die Welt im Rahmen der Globalisierung und eines deregulierten
Finanzmarktes für den ungehinderten Kapital- und Warenverkehr zu erobern.
Einmal vom revolutionären Schwung dieser Erfolge ergriffen, grassierten
damals völlig ahistorische Blütenträume: Nicht nur das Ende der Geschichte
war angesagt, sondern auch die Unumkehrbarkeit der unipolaren Welt und
der sie tragenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Warum, so wurde
getagträumt, sollte nicht auch das Kunstgebilde Jugoslawien und gleich noch
das große China mit seiner 5000 Jahre alten Kultur- und Herrschaftstradition
nach dem Muster der Sowjetunion auseinanderbrechen?
Die strategische Landkarte erschien vielversprechend: das erste, durchaus
realistische Ziel der westlichen Außenpolitik war die Hegemonie über
Osteuropa. Das zweite Ziel war die Neuordnung des Nahen Ostens mit den
Mitteln des „regime-change“ in all den Nationen, die früher Verbündete der
SU waren ( der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark nennt in
einem Vortrag und Interview vom Jahr 2007ausdrücklich Irak, Syrien,
Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und Iran). Das dritte Ziel war der Zugang
und Zugriff auf die zentralasiatische Region, wo die kommende Konkurrenz
zu China vermutet wurde und sich damit die Chance ergeben würde,
Rußland und China auch von Land her einzukreisen. Auch dafür nahm der
Iran eine Schlüsselstellung ein.
Der entscheidende Wendepunkt dieser anfangs erfolgreichen Geo-Strategie
war der im Frühjahr 2003 von den USA fast im Alleingang begonnene Irak-
Krieg, der der Logik der Beistandserklärung der NATO von 2001 für den bis
heute andauernden „Krieg gegen den Terror“ folgte. Als Ergebnis brachte
dieser „Krieg gegen den Terror“ eine Destabilisierung des gesamten
Machtgefüges im vorderasiatischen Raum, Kampf der schiitischen gegen die
sunnitischen Regime, Auflösung von Staatlichkeit, Rückfall in alte Clan-
Strukturen, anhaltende Bürgerkriege, anwachsender Drogenhandel, erneute
Stärkung von Taliban und Al Qaida und wachsende Feindschaft der
schutzlosen Bevölkerungen im zentralasiatischen Raum gegen die USA als
Hauptakteur des Drohnenkrieges.
Teil 2: Vision und Fehleinschätzung Michael Gorbatschows
Michael Gorbatschow hat selten offen über seine
höchstpersönliche Bilanz des großen Umbruchs gesprochen, für den sein
Name wie kein anderer steht. Wer aber die Chance hatte, ihn einmal – 15
Jahre danach - zu diesem Thema in einer sehr kleinen
Runde zu hören, wird niemals den Ausdruck tiefster Verbitterung vergessen,
mit dem er am Ende feststellte: Nirgendwo im Westen habe es damals einen
echten Partner für ihn gegeben; wahrscheinlich habe keiner im anderen Lager
auch nur annähernd begriffen, welches Risiko er, der damals mächtigste
Mann jenseits des Eisernen Vorhangs, mit dem politischen Konzept „Glasnost
und Perestroika“ eingegangen sei; kein einziger Staatsmann im Westen habe
verstanden, dass das von ihm angestrebte gemeinsame „Haus Europa“ auch
eine tiefgreifende Erneuerung der westlichen Strukturen, Institutionen und
Denkweisen erfordert hätte, um eine völlig neue einmalige
Zukunftsperspektive für den ganzen Kontinent zu eröffnen. Im gesamten
westlichen Staatensystem, so müsse er rückblickend feststellen, habe nur ein
Triumphalismus ohnegleichen und reine Siegermentalität geherrscht. Das sei
am Ende der Grund gewesen, warum Russland, nach dem politischen
Ausverkauf und der ökonomisch-politischen Anarchie der Jelzin-Jahre einen
Machtmenschen wie Wladimir Putin geradezu gebraucht hätte, wollte es nicht
gänzlich aus der Weltpolitik verschwinden.
Tatsächlich ist es immer noch sinnvoll, sich Klarheit darüber zu verschaffen,
was Gorbatschow damals als politisches Konzept angestrebt hat. In
nüchterner Einschätzung, dass weder das sowjetische Wirtschaftssystem,
noch der aufgeblasene Militärapparat und schon gar nicht die innere
Verfasstheit der sozialistischen Gesellschaften die Systemauseinandersetzung
zwischen Ost und West gewinnen konnten, wollte er zwar auch sein eigenes
Land retten, aber vor allem den Kalten Krieg zu Ende bringen – und damit
zugleich die letzten Verwerfungen der beiden großen Weltkriege beseitigen.
Wenn etwas bei Gorbatschow durchgängig stringent ist, dann seine
Bereitschaft, Kriege und Kriegsbereitschaft zu beenden: Er ordnete den
Rückzug aus Afghanistan an, er hob die Breshnew-Doktrin auf und erlöste die
Verbündeten vom Zwangssystem des Warschauer Paktes, er bot den USA die
völlige gegenseitige nukleare Entwaffnung bis zur Jahrtausendwende an, er
reduzierte die eigenen Streitkräfte auf 500 000 Mann, er leitete eine
Entspannungspolitik gegenüber China ein. Er ging dabei von der unter
Realpolitikern äußerst selten anzutreffenden, letztlich idealistischen Annahme
aus, eine freiwillige Machtaufgabe könne auch auf der Gegenseite ungeahnte
Wirkungen entfalten. Er vermutete, dass die Welt zu Beginn des 21.
Jahrhunderts zu einer völlig neuen multipolaren Weltordnung bereit sei und
dass diese eine große Zukunft haben könne, wenn sie nicht so gewaltgeboren
und gewaltgeprägt wäre wie die Nachkriegsordnungen des Versailler
Vertrages von 1918 und des Systems von Jalta nach 1945.
Dass es um eine echte selbstbestimmte Machtaufgabe ging, beweist allein
schon die weitgehende Gewaltfreiheit der Umstürze in so vielen einzelnen
Ländern von 1989 an, die fast ohne Verlust von Menschenleben vollzogen
wurden. Wer diese Tatsache bestreitet, fällt seiner eigenen Propaganda
anheim, die behauptet, die sowjetischen Armeen und Funktionseliten seien
schon so marode und ohnmächtig gewesen, dass die NATO-Nachrüstung, ein
kesser Spruch von Ronald Reagan („Mister Gorbatschow, reißen Sie diese
Mauer ein“), ein deftiger Anrempler von Helmut Kohl (Vergleich
Gorbatschows mit Goebbels), Friedensgebete, Kerzen, Transparente und
Versammlungen auf den Straßen ein Weltreich dieser Größe allein in die Knie
gezwungen hätten. Nein, über die Gewaltfreiheit dieses Umsturzes wurde
letztlich nicht im Westen entschieden, sondern im Machtzentrum des Kreml.
Das genau hat Gorbatschow in der Rückschau in seinem eigenen Land so
unbeliebt gemacht und ihm den Ruf eingetragen, er habe 1989, als er das
Militär in den Kasernen ließ und auf positive Reaktionen im Westen hoffte,
nicht nur den Kalten Krieg, sondern gleich auch noch die beiden Weltkriege
nachträglich für Russland verloren.
Immerhin bezahlte er diese gewaltarme Strategie nicht nur mit dem
historisch überfälligen Auseinanderbrechen der Sowjetunion und Rußlands
Absturz in die zeitweise Bedeutungslosigkeit, sondern auch mit der Tatsache,
dass eine erweiterte und verstärkte NATO heute direkt an den Grenzen
Russlands steht. Dass dies ein offensichtlicher Wortbruch gegenüber den
diplomatischen Versprechungen aus den 2 plus 4 -Verhandlungen ist, wird
auf Nachfrage gern so begründet: Diese Zusage habe man doch der
Sowjetunion gegeben, die ja bekanntlich nicht mehr existiere! So zeigt sich
drastisch, dass der Westen nach 1990 längst die eigene so erfolgreiche
Strategie der Entspannung, der vertrauensbildenden Maßnahmen, der
gemeinsamen Sicherheit, der KSZE und der Deeskalation zwischen den
Blocksystemen verlassen hatte, auf deren Verlässlichkeit Gorbatschow noch
vertraute – und ohne die er vermutlich nie in seine zentrale Position
gekommen wäre.
Tatsächlich ist erst heute sichtbar, dass in diesem einseitigen Prozess des
Pokerns und Übervorteilens, der sich Realpolitik nennt, auch der Westen
langfristig eine der chancenreichsten Wegkreuzungen zu einer neuen anderen
Nachkriegsordnung mutwillig verspielt hat, die zu einer krisenfesteren und
friedlicheren Staatengemeinschaft des 21.Jahrhunderts hätte führen können.
Das wurde relativ früh sichtbar, als in den Jugoslawienkriegen jede
diplomatische Vermittlung von russischer Seite abgewiesen wurde – im
Bewusstsein des erwarteten schnellen Sieges, der historischen Vorteile der
eigenen Position und der weitgehenden Akzeptanz des beginnenden
Menschenrechts-Bellizismus in den westlichen Medien bis hinein ins
sozialdemokratische und grün-alternative Spektrum. Erst weitere 15 Jahre
später, nach opferreichen Kriegen und Irrwegen kommt man in der Syrien-,
Libanon- und Iran-Diplomatie langsam wieder auf diese Reste einer Strategie
der Entspannung, der gemeinsamen Sicherheit und der diplomatischen
Lösungen zurück.
Teil 3: Das Zerschellen einiger westlicher Illusionen an der realen Welt.
Was machte die westlichen Staaten eigentlich 1990 so sicher, auf der
historischen Siegerstraße nur voranschreiten zu müssen?
Fatalerweise war es vermutlich gerade die Leichtigkeit, mit der das
sowjetische Blocksystem zusammenbrach, die der realpolitischen Schule und
den geopolitischen Strategen in Washington, London und Bonn damals nahe
legten, jetzt könne man die Landkarte Europas und dazu gleich noch das
bestehende Völkerrecht in Windeseile verändern und damit ohne
nennenswerte eigene Opfer Geschichte schreiben. Die Situation lud zu
Umbrüchen ein, die Legende von der friedlichen demokratischen Revolution
überzeugte Massen und Medien – der Mythos von dem „Fenster der
einmaligen Gelegenheit“, das nur beherzt von tatkräftigen Staatsmännern
aufgestoßen werden müsse, schien überzeugend und befreite von unnötigen
Grübeleien.
Hinzu kam, dass die schnelle Osterweiterung von NATO und EU von den
betreffenden Nationen selbst mit Entschiedenheit gefordert wurde. Die
Angebote der neoliberalen und auf Globalisierung ausgerichteten
Wirtschaftsschule der Neokonservativen versprachen den schnellstmöglichen
Anschluss an westlichen Wohlstand und den größtmöglichen Abstand zur
untergegangenen Sowjetwelt. Für die begabten jungen Eliten dieser Länder –
die meisten kamen aus den staatlich organisierten Jugendorganisationen, zu
denen ein Michail Chodorkowski genau so gehörte wie Julia Timoschenko
oder Angela Merkel – wurde dieses Versprechen auch glanzvoll erfüllt und
machte sie zu besonders gelehrigen Musterschülern und Propagandisten der
herrschenden Wende-Ideologien. Die praktischen Folgen der radikalen
Umstellungsmaßnahmen in den meisten Ländern ernüchtern heute allerdings
und zeigen auch die Verlierer der Wende: Massenarbeitslosigkeit, Korruption,
Nationalchauvinismus und Fremdenphobien, sinkende Lebenserwartung und
ständige Abwanderung qualifizierter Fachkräfte prägen viele
postsozialistischen Staaten. Die Umstellung auf die neuen Systeme war oft,
dank der „Hilfe“ von westlichen Beratern, stur nach Lehrbuch erfolgt.
Vergessen wurde bei diesem triumphalen Aktivisten-Rausch, der dem Ende
des Kalten Krieg folgte, die wichtigste Lehre aus den beiden Weltkriegen des
vergangenen Jahrhunderts: Dass der Krieg nicht gewonnen ist, wenn es nicht
gelingt, eine Friedensordnung zu installieren, die auch den Besiegten
einschließt.
Das ungerechte System von Versailles, das den jahrhundertealten
Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn ersatzlos von der europäischen Landkarte
gestrichen hatte und in vielen Details ebenfalls vom idealistisch-
revolutionärem Elan eines Wilson geprägt war, hatte eine Welt voller unklarer
Staatengebilde und national-chauvinistischer und rassistischer Ressentiments
hinterlassen, die bereits den Keim zu neuem Unheil in sich bargen. Ebenso
droht heute der zweite Kalte Krieg dem ersten zu folgen. Es scheint nur noch
nicht ausgemacht, ob er gegen China oder gegen die islamische Welt – oder
vielleicht sogar gegen beide – geführt werden soll.
Teil 4: Gibt es noch ein Rückkehr zur Diplomatie, zur Entspannungspolitik und
zum Völkerrecht?
Es ist Zeit, innezuhalten und nachzudenken! Inzwischen ist klar, trotz Tibet
und Tiananmen: China wird nicht den Weg der Sowjetunion gehen, so sehr
sich das manche Menschenrechts-Bellizisten auch wünschen mögen. Putins
Russland wird nicht an Pussy Riot-Aktivistinnen und noch nicht einmal an der
Unterstützung für Michail Chodorkowski zugrunde gehen. Die militanten und
oft im Ton äußerst aggressiven medialen Lifestyle-Kampagnen – Mohammed-
Karikaturen, Freiheit für Google und Starbucks, Olympia-Boykott für den
Dalai Lama – haben ihren Zenit überschritten. Sie waren Teil einer
leichtfertigen kulturellen Trunkenheit, der politische Alltag kehrt zurück.
Vor allem: Der Nahe Osten, wo einmal alle Konflikte begannen und alle
Großmacht-Interessen aufeinanderprallten, ist nicht befriedet, sondern in
hohem Maße destabilisiert. Das Gleiche gilt für den Kaukasischen Raum, das
„Herzland“ des eurasischen Megakontinents. Die Schlüsselkriege, die in
beiden Regionen revolutionäre Umbrüche erzeugen sollten, sind genau so
gescheitert wie der Vietnam-Krieg aus jener Zeit, als der Kalte Krieg
anderswo auch heiß war. Gescheitert ist damit noch einmal die diesmal
umgekehrte Domino-Theorie: Gelänge es, in einem Staat dieser Region den
angestrebten „regime-change“ von außen zu bewirken – und sei es unter
dem Vorwand der „responsibility to protect“ – so würden die anderen
zwangsläufig folgen. Dass dieses Scheitern so lange so wenig ins Bewusstsein
der westlichen Öffentlichkeit drang, lag an der erheblich verbesserten
„eingebetteten“ medialen Kriegspropaganda und der gelungenen moralischen
Aufrüstung für die Vollendung einer „Mission“ der demokratischen Rettung
der ganzen Welt. Aber auch hier beginnt Ernüchterung um sich zu greifen:
Am Hindukusch wurde nicht unsere Freiheit verteidigt, sondern die sinnlose
Illusion einer monokulturellen Weltordnung.
Es gab einmal andere Politik-Methoden, in jener Zeit, als die Welt noch nahe
am Abgrund eines nuklearen Weltkrieges stand und unter der Knute
rassistischer Diktaturen litt. Willy Brandt und Egon Bahr entwickelten sie
gegenüber der (nicht-reformierten) SU, Henry Kissinger und Richard Nixon
gegenüber der (maoistischen) VR China, Nelson Mandela innerhalb des
Apartheid-Regimes Südafrika. Es war eine Politik des Dialogs ohne
Vorbedingungen, die auf Entspannung, Wandel durch Annäherung, Offenheit
für innere Reformen, Versöhnungsbereitschaft mit den Eliten der
gegnerischen Seite und das Bewusstsein einer gemeinsamen Welt-
Verantwortung setzten, nicht auf den Sieg des Stärkeren oder auf die
Demütigung des Besiegten. Aus dieser Politik ist der KSZE-Prozess
entstanden, eine Stärkung der UNO, eine Überwindung der
Blockkonfrontation, eine Politik der vertrauensschaffenden Maßnahmen und
gemeinsamer Sicherheitspartnerschaften.
Wenn alle neokonservativen Illusionen und Weltherrschaftsträume verflogen
sind, bleibt uns hoffentlich noch Zeit genug , dahin zurückzukehren.
Antje Vollmer
Hauke Ritz
23.Januar 2014
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